Angehörige im Sog der Abhängigkeit

Mit freundlicher Genehmigung aus:
Tascheninfo, Angehörige von Suchtkranken, im Blaukreuz-Verlag, GVS www.sucht.org

Angehörige von Abhängigkeitskranken sind immer Mit-Betroffene. Sie erleben zunächst viel Enttäuschung, Verunsicherung und Verwirrung - sie wissen ja oft lange nicht, dass sie es mit einem suchtkranken Menschen zu tun haben. Sie versuchen eben, mit den nun auftretenden Problemen so gut wie möglich fertig zu werden und hoffen, dass es sich um eine vorübergehende Krise handelt. Gleichzeitig erleben sie jedoch außer ihrer zusätzlichen Arbeitsbelastung noch eine überwältigende Menge an schmerzlichen Gefühlen. Da ist vor allen die Angst: Was geschieht als nächstes - kommt es zu Gewalt, zu Krankheit, Verletzungen, zu Schulden? Sind die Rechnungen bezahlt worden? Gibt es Probleme im Betrieb, mit der Wohnung, mit der Polizei...?

Es ist sehr schmerzhaft, zu erleben, wie sich eine geliebte Person verändert, wenn sie süchtig wird. Es tut weh, immer wieder von ihr enttäuscht zu werden, sich nicht mehr auf sie verlassen und ihr nicht mehr glauben zu können, Angst nicht nur um sie, sondern auch vor ihr haben zu müssen und von ihr auch noch aller möglichen Dinge beschuldigt zu werden. Ein weiteres zentrales Gefühl ist die Scham. Die Familie schämt sich ihres abhängigen Mitglieds und dessen Verhalten und verschleiert daher das Problem nach außen, häufig auch untereinander.

Viele Angehörige haben Schuldgefühle: Habe ich als Mutter, Vater, Partner oder Partnerin versagt? Sie entwickeln Wut auf das verletzende Verhalten des süchtigen Familienmitglieds und fühlen sich deshalb häufig wieder schuldig - im Irrglauben, auf einen kranken Menschen dürfe man keine Wut haben. Die einzelnen Angehörigen isolieren sich oft voneinander, und ihre Gefühle gegenseitiger Zuneigung und Sorge gehen irgendwann unter im Stress der immer wiederkehrenden Probleme, die das Verhalten des Süchtigen mit sich bringt.

Die Familienmitglieder beginnen, sich gegenseitig die Schuld am Verhalten des kranken Menschen zuzuschieben: "Du warst auch immer zu autoritär." "Du hast immer zu viel von ihr verlangt." "Er trinkt doch erst, seitdem er bei dir lebt." Die familiäre Kommunikation bricht schließlich zusammen; langfristig vereinsamen die einzelnen Familienmitglieder und entwickeln typische Abwehrmechanismen und Verhaltensweisen, die ihnen helfen, ihren Schmerz nicht mehr zu spüren.


Co-Abhängigkeit entsteht

Das Verhalten von Suchtkranken trägt dazu bei, ganz bestimmte Entwicklungen bei den Menschen im Umfeld zu provozieren: Sie übernehmen häufig die Verantwortung für die abhängige Person, auch wenn diese längst schon ein erwachsener Mensch ist. Diese Entwicklung beginnt ganz normal: Zunächst liegt es durchaus nahe, dass sich Angehörige Gedanken darüber machen, warum jemand auf einmal mehr trinkt, öfter betrunken ist oder Tabletten nimmt. Die Erklärungen der Betroffenen beruhigen, und Angehörige erfinden sogar oft ihrerseits Entschuldigungen für den Suchtmittelkonsum: "Er/sie hat so viel Stress zur Zeit." Auch glauben sie, mit Verständnis und liebevoller Zuwendung dafür sorgen zu können, dass das problematische Verhalten bald wieder ein Ende haben wird. Sie meinen es gut, aber leider hat der Mensch auf dem Weg in die Sucht dadurch keinerlei Grund, sein Verhalten zu ändern. Das zunächst naheliegende und ganz normale hilfreiche Verhalten des Umfeldes bekommt einen suchtunterstützenden Charakter, der eine Seite der "Co-Abhängigkeit" ausmacht.


Alles unter Kontrolle?

Wenn alles Beschützen, Erklären und alles Verständnis nicht weitergeholfen haben, versuchen Angehörige meistens, dem abhängigen Menschen nun scheinbar fehlenden Willen aufzuzwingen und dessen Verhalten zu kontrollieren. Da der kranke Mensch jedoch seinen Suchtmittelkonsum selbst nicht mehr unter Kontrolle hat, ist die Vorstellung, eine andere Person könne sein Verhalten kontrollieren, eine Verkennung der Realität, diesmal auf Seiten der Angehörigen. Auch hier dient die Illusion dazu, die eigene Ohnmacht nicht anerkennen und spüren zu müssen. Aber je stärker die Menschen im Umfeld kontrollieren, desto schmerzlicher werden ihre Misserfolgserlebnisse.

Übliche Kontrollversuche sind zum Beispiel das "Dosieren" oder das Ausschütten von alkoholischen Getränken; versucht wird auch, den suchtkranken Menschen ständig zu beaufsichtigen. Immer öfter kreisen die Gedanken der Angehörigen um die Droge, die sie selbst nicht nehmen. Meistens entwickelt sich nun eine neue Abhängigkeit, die überwiegend die Frauen betrifft: Sie verknüpfen ihr Selbstwertgefühl mit dem Verhalten des kranken Familienmitglieds. War ihr Kontrollmanöver erfolgreich, sind sie froh, fühlen sich gut und glauben, nun müssten sie nur noch mehr Kontrolle ausüben, dann werde der/die andere schon wieder aufhören zu trinken. Zeigt der/die andere jedoch wieder Suchtverhalten (was unumgänglich ist), so zweifeln sie an sich selbst und meinen, sich nicht genug bemüht zu haben. Sie geben immer mehr ihrer eigenen Interessen auf, um sich besser um die andere Person kümmern zu können - und dieser Prozess kann so weit gehen, dass der süchtige Mensch schließlich zum Lebensmittelpunkt der Angehörigen wird. Da sie außer gelegentlichen "Zufallstreffern" jedoch mit allen Bemühungen scheitern, sinkt ihr Selbstwertgefühl immer tiefer.

Dazu müssen sie oft auch Beschuldigungen des süchtigen Menschen oder der Umgebung ertragen, die voller Verständnis für den "armen kranken Menschen" Partei ergreifen. So bekommen sie zum Beispiel Vorwürfe zu hören wie "Du kannst deinem Mann doch nicht mit Scheidung drohen - dann muss er ja erst recht trinken." Gleichzeitig müssen die Angehörigen nun für das kranke Familienmitglied mitfunktionieren und entwickeln dabei auch ganz besondere Kompetenzen. Diese neuen Fähigkeiten sowie das Erleben von Situationen, in denen der/die andere klein und hilflos ist, können zeitweise durchaus zu einem Zuwachs an persönlicher Macht führen und somit zur Quelle für das Selbstwertgefühl der Angehörigen werden - aber welchen Preis müssen sie dafür bezahlen!


Unerträgliche Gefühle

Da alle Bemühungen letztlich ohne Erfolg bleiben, kommen derart "co-abhängig" verstrickte Angehörige eines Tages an einen Punkt, an dem sie sich selbst beziehungsweise ihre Gefühle nicht mehr ertragen können. Ähnlich wie die suchtkranke Person fangen auch sie an, die Realität teilweise auszublenden. Sie verdrängen ihre zahlreichen schmerzlichen Gefühle in die hintersten Winkel ihrer Seelen, glauben zeitweise, es sei alles nicht so schlimm und das sie das alles irgendwann doch in den Griff bekämen.

Vergleichbar dem "Lügen"-System der Süchtigen versuchen auch sie, das Problem vor anderen, insbesondere aber vor sich selbst zu verbergen. Wenn ihre seelische Kraft nicht ausreicht, werden sie von ihren Gefühlen überflutet und brechen bei kleinen Anlässen in Tränen, Wut und Vorwürfe aus - Wasser auf die Mühlen des suchtkranken Menschen, der dann zum Beispiel sagen kann "Du bist doch hier diejenige, die überreagiert - und du willst mir erzählen, ich hätte ein Problem." Später sagen sie dann: "Ich kannte mich selbst nicht wieder", "Etwas ist mit mir durchgegangen" oder ähnliches. Sie haben Angst, dass tatsächlich etwas mit ihnen nicht stimmt.

Dazu kommt, dass es Momente gibt, in denen sie wünschen, der/die Süchtige möge doch endlich gegen einen Baum fahren, damit das ganze Elend ein Ende habe. Auch dies führt zu Schuldgefühlen und Verzweiflung. Selbst wenn die Liebe gestorben ist, ist es schrecklich zu erleben, dann man einem anderen Menschen den Tod wünscht.

Die Betroffenen drohen auch oft mit Trennung, halten dies aber selbst nicht aus - das Signal für das abhängige Familienmitglied: "Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird".


Psychosomatische Probleme

Aufgrund der Belastungen im Zusammenleben mit suchtkranken Menschen entwickeln Angehörige oft Stress bedingte psychosomatische Probleme wie Kopf- und Magenschmerzen, Herzrhythmusstörungen, Schlafstörungen, Atemnot. Viel zu häufig werden sie lediglich mit Psychopharmaka "versorgt", ohne dass ihre familiäre Situation zur Sprache kommt. Oft verschweigen sie die Wahrheit ja selbst - weil sie es eben "nicht mehr sehen können", um nicht zu verzweifeln. Besonders schwierig wird es dann, wenn der suchtkranke Mensch schließlich eine Therapie macht, sich aber sonst nichts in den familiären Beziehungen ändert. So, wie er sich aus seiner Abhängigkeit von einem Suchtmittel oder -verhalten lösen muss, müssen sich auch viele Angehörige aus ihrer jahrelang geübten Abhängigkeit vom Verhalten des süchtigen Menschen lösen. Dies zu erkennen, fällt ihnen lange Zeit sehr schwer - sie meinen, es reiche aus, wenn der/die andere nicht mehr trinkt, Drogen nimmt oder die Spielhalle aufsucht.


Die Kinder "kriegen garantiert was mit"

Ein häufig geäußerter Satz von süchtigen wie co-abhängigen Eltern ist der, dass die Kinder "von all dem nichts mitbekommen". Ein großer Irrtum: Sie kriegen garantiert was mit.

Die Kinder glauben oft, an den Problemen der Eltern schuld zu sein. Sie schämen sich und versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass andere Menschen sehen können, was in ihrer Familie vor sich geht. Sie verbergen ihren Schmerz vor sich selbst, oft trauen sie den eigenen Gefühlen nicht. Manche Kinder können schwerwiegende Störungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erleiden, andere werden ganz gut mit dem Suchtproblem in der Familie fertig.

Etliche Kinder, meist die Ältesten, erscheinen jedoch "zu gut" - sie sind übermäßig verantwortungsbewusst, kümmern sich um die anderen (aber nicht um sich selbst), sind früh wie kleine Erwachsene. Sie müssen aber lernen, dass zum Leben auch Spielen und Spaß gehören. Und dass sie auch geliebt werden, wenn sie sich nicht immer nur für andere nützlich machen. Manche werden zum Sündenbock der Familie, nehmen ihrerseits vielleicht Drogen oder fallen anderweitig auf. Auch sie brauchen das Gefühl, einen Platz in dieser Welt zu haben, ohne dass sie dafür negativ auffallen und von den Problemen der Eltern ablenken müssen. Im Rahmen der Selbsthilfe gibt es in einigen Großstädten auch Gruppen für minderjährige und erwachsene Kinder von Suchtkranken. Viele Betroffene merken erst als Erwachsene, dass die während ihrer Kindheit und Jugend erlebten suchtbedingten Probleme sie in manchen Lebensbereichen noch immer beeinträchtigen.

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