Schon 15 Jahre trocken!
Und das nach zwei Langzeittherapien. Doch erst mal: wie kam ich so weit voran auf meinem Weg zur zufriedenen Trockenheit?
In den Jahren vor 1989 nahm mein Alkoholkonsum stetig zu. Meine Frau sprach mich wiederholt darauf an. Ich jedoch habe mir
fest eingeredet, mein Trinkverhalten sei - im Vergleich zu den anderen Besoffenen - ganz normal und ich hätte keine
Alkoholprobleme. Als Alibifunktion habe ich trotzdem mehrere stationäre Entgiftungen gemacht. Doch nach wenigen Tagen habe ich
immer wieder zum Alkohol gegriffen. So erhöhte sich mein täglicher Konsum stetig.
Im Jahr 1989 machte ich dann meine erste Therapie im Westerwald auf Drängen meiner Frau. Doch damals hatte ich noch nicht
begriffen, was Therapie wirklich bedeutet. Ich habe die Therapiestunden "abgesessen" und alles, was die Therapeuten
sprachen, im Kopf abgespeichert. Mit dem so Gelernten konnte ich nun mitreden. Auch habe ich gelernt, dass man sich nach der
Therapie einer Selbsthilfegruppe anschließen sollte (ohne aber zu verstehen, was das auf Dauer für einen Sinn hat). Der
aktiven Gruppentherapie (Gespräche mit und zwischen den Mitpatienten) habe ich mich jedoch entzogen und fast alle freie
Zeit mit Werken verbracht. Leider hat mein Verhalten kein Therapeut erkannt und niemand hat mir den rechten Weg gewiesen.
Nach der Therapie habe ich mich (wie angeraten) der Selbsthilfegruppe "Die "Lotsen" angeschlossen. Mit
meinem Kopfwissen konnte ich mitreden. Es war aber noch nicht im Bauch (Gefühl) angekommen. Mitglieder dieser Gruppe
haben mich in Gesprächen warnend darauf angesprochen, dass dies sehr gefährlich sei. Doch ich habe diese Hinweise leider
ignoriert. Denn gefühlsmäßig beschäftigte mich weiter nur die Frage: Warum soll gerade ich nicht kontrolliert Alkohol
trinken können. Das habe ich aber in der Gruppe nicht erwähnt! Und nach einem halben Jahr wurde ich
rückfällig. Da machte ich einen weiteren Fehler: Ich habe auch das ich der Gruppe verschwiegen und tat so, als wäre
ich noch trocken. Was nicht ausbleiben konnte, war mein immer stärker werdendes schlechtes Gewissen, die Gruppe und
mich zu belügen. Die Konsequenz: Ich blieb künftig der Gruppe fern.
Und ab da ging es dann rapide abwärts. Der Alkoholkonsum wurde immer mehr, so dass ich zum "Spiegeltrinker"
wurde und schon morgens vor der Arbeit meinen "Stoff" brauchte. Und im Dezember 1995 war es dann soweit: In der
Firma hatte ich vor den Kollegen einen völligen Zusammenbruch, da an dem Tag hochrangige Kunden kamen und ich dieses
Meeting ohne "Fahne" bestehen wollte. Der alarmierte Werksarzt erklärte mir knallhart, dass bei meinen
Vorgesetzten mein Alkoholproblem bekannt sei (Wie dies? Ich habe doch immer im Verborgenen getrunken, viel geraucht
und niemand hatte mich bis dahin darauf angesprochen! Und mit meinem Spiegel habe ich ja bestens funktioniert!).
Ich müsse mit einer ersten Abmahnung rechnen, wenn ich nicht bald etwas unternehmen würde. Und da begannen die Alarmglocken
zu dröhnen! Zudem war meine Frau drauf und dran, sich von mir zu trennen.
Am 21. Januar 1996 trat ich meine zweite Langzeittherapie in Münchwies (Saarland) an. Nach 14 Tagen in der Aufnahmegruppe
kam ich in meine Hauptgruppe.
Der erste für mich glückliche Aspekt war unser Gruppentherapeut Jörg. Die Art, wie er mit uns Patienten umging, hat mich
enorm beeindruckt und ich spürte, da stimmt die Chemie. Zu erwähnen ist, dass man mich in der Aufnahmegruppe über meine
erste Therapie ausführlich befragt hatte. Da kam mein damaliges Fehlverhalten zutage und Jörg wurde natürlich darüber
informiert. Der nächste glückliche Punkt für mich war, dass Jörg alle seine Patienten dazu verpflichtete, ein Tagebuch
zu führen. Darin sollten wir jeden Abend unsere Gefühle und das Erlebte festhalten. Während wir alle am nächsten Morgen
in einer ersten Therapiestunde waren, hat er sich alle Tagebücher durchgelesen und so erfahren, was in unseren Köpfen ablief.
Dieses Wissen hat er dann in seinen Stunden und auch in der Freizeit dazu verwendet, mit uns darüber zu reden - natürlich
unter Wahrung der Verschwiegenheit. Er hat uns in der Freizeit regelmäßig in den Gruppenraum gerufen, um mit uns zu
diskutieren und alle Aspekte des Alkoholismus auszuleuchten.
Ich bin so mit "sanfter Gewalt" zu genau dem Gruppenverhalten geführt worden, dem ich mich in der ersten -
letztlich erfolglosen Therapie - verschlossen habe. Ich habe mit einem Mal nicht mehr gemauert, sondern aufgemacht, weil
ich merkte, da ist etwas, das mir helfen kann. Wir - die Mitpatienten und Jörg - haben so Schritt für Schritt versucht,
unser Suchtverhalten zu ergründen, die Zusammenhänge zu erkennen und Lösungen zu erarbeiten. Dabei haben ich, und die
anderen, erkannt, dass ich nur weiterkomme, wenn ich ehrlich zu mir selbst und den anderen bin. Jeder in der
Gruppe hatte eine eigene Vergangenheit, aber im offenen Gespräch über die Probleme konnte ich selbst Parallelen erkennen
und das Eine oder Andere für mich rausnehmen. So habe ich gelernt, dass ich in der Gruppe Halt und Hilfe erhalte -
Hilfe zur Selbsthilfe! Denn letztendlich muss ich selbst wollen und nicht müssen. In den letzten Tagen
habe ich mir dieses Tagebuch noch einmal in Ruhe durchgelesen und war erstaunt, was für Gedanken und Gefühle ich damals
zu Papier gebracht habe. Ich kann trotzdem nicht auf den Tag genau sagen, wann in den 4 Monaten der Augenblick gekommen
war, an dem das Wissen über Sucht und Suchtverhalten vom Kopf in den Bauch gerutscht ist. Irgendwann war das Gefühl
da: Ich will trocken werden und bleiben und nicht mehr dahin zurück, wo ich als Trinker war. Das allein zählt
letztlich, oder?!?! Und die alten Gedanken, ob ich nicht doch kontrolliert trinken kann, waren weg. Ich habe für mich
erkannt: Ich bin alkoholabhängig. Ich kann diese Krankheit nicht heilen. Aber ich kann und will dem Alkohol absagen
und - auch das habe ich erkannt - mit/in einer Selbsthilfegruppe meinen trockenen Weg weitergehen.
So ging ich nach dieser Therapie zur gleichen Lotsengruppe, die ich vorher aus Scham verlassen hatte. Ich kannte ja all
die damaligen Mitglieder. Und was ich mir früher nicht hätte vorstellen können: Man hat mich wie einen verlorenen Sohn
aufgenommen und mir zu meinem zweiten Anlauf gratuliert. Und in dieser Gruppe bin ich bis heute und werde es auch in Zukunft
bleiben.
Denn eines ist mir nun klar: Die Gruppe ist meine zweite Familie, die mich begleitet und erkennt, wenn ich beginne, mein
Verhalten zu verändern. Dann spricht sie mich darauf an und ich kann - vorausgesetzt, ich gehe ehrlich mit mir und ihnen
um - versuchen gegenzusteuern.
Natürlich gibt es auch Gruppenmitglieder, die ohne Therapie trocken geworden sind. Das ist möglich, wenn sie sich individuell
diese Kraft zutrauen. Aber ohne Gruppe ist das aus erwähnten Gründen kaum möglich.
Eines ist jedoch entscheidend: Ohne Ehrlichkeit mir und meiner Umwelt gegenüber geht es nicht. Alle Menschen in meinem
Umfeld wissen, dass ich trockener Alkoholiker bin. Sie akzeptieren meine Abstinenz und freuen sich mit mir. Ich kann heute
ohne Probleme auf Einladungen gehen, wo Alkohol getrunken wird. Doch ein "kleines Warnschild" im meinem Hinterkopf
ist immer da. Denn ich habe erkannt, dass andere kontrolliert trinken können - ich nicht.
Ich kann nicht sagen, was die Zukunft bringt. Ein Rückfall ist nie auszuschließen. Sollte es - warum auch immer - dazu
kommen, ist mir klar: Ich werde es in der Gruppe ansprechen. Den Fehler von damals will ich nicht noch einmal
begehen. Denn die Gruppe gibt mir Halt und Hilfe - zur Selbsthilfe.
Mein Bericht beginnt mit einem Satz, den ich vor Jahren im Urlaub auf einer Postkarte entdeckte, zusammen mit einer Fußspur
im Sand: Das mit dem erstem Schritt. Das sollte jeder bedenken, der trocken werden will. Schließen möchte ich mit
einem anderen Satz. Ich habe vor einigen Jahren einen Spiegel entdeckt, in dessen Glas ein Künstler einen Satz graviert hat,
den ich lese, wenn ich in den Spiegel schaue:
Der Spiegel hängt bei
den "Lotsen". Und jeden Freitag in der Gruppenstunde sehe ich ihn und den Satz aufs Neue als mahnende Erinnerung.
16 Jahre trocken und was für ein Weg. Ich wünsche allen, die in vergleichbarer Lage sind, dass sie die gleiche Kraft haben
und die gleichen positiven Erfahrungen machen. Vorausgesetzt, sie wollen diesen weiten Weg gehen.
Wolfgang
5. März 2011,
Freitagsgruppe 2