1. Sucht im Alter
ist ein weithin unterschätztes Problem.
Bis vor wenigen Jahren war man der Ansicht, dass Sucht im
Alter als Rarität anzusehen sei. Suchtkranke Menschen hätten eine reduzierte Lebenserwartung,
sie würden oft nicht alt und der Alkoholkonsum gehe im Alter ohnehin zurück. Nach aktuellen Untersuchungen betreiben in der Altersgruppe
über 60 Jahren 10-20 % der Männer und 5-10 % der Frauen Alkoholmissbrauch, ein
Abhängkeitssyndrom besteht bei 2-3 % der über 60-jährigen Männer und bei bis zu 1 % der über
60-jährigen Frauen.
Es ist zu befürchten, dass insbesondere im Bereich der
Schlaf- und Beruhigungsmittel ein erheblicher Mißbrauch betrieben wird. Im Alter steigt nicht
nur der Medikamentenkonsum, sondern auch der Bedarf. Es ist daher im Einzelfall zu
unterscheiden, ob Medikamente indikationsgerecht angewandt und bestimmungsgemäß verbraucht
werden, oder ob eine Abhängigkeit zugrunde liegt.
Illegale Drogen sind derzeit für ältere Menschen noch kein
Thema.
2. Sucht im Alter
ist ein Problem, das in der Zukunft erheblich zunehmen wird
Dass durch die demographische Entwicklung der Anteil älterer
Menschen an der Gesamtbevölkerung steigen wird, ist bekannt. Schon dadurch
würde bei gleichen Prozentzahlen die Gesamtzahl der suchtkranken Älteren
steigen. Hinzu kommt jedoch, dass in jüngeren Jahren erworbene Konsumgewohnheiten beibehalten
werden. Die jetzige Wohlstandsgeneration ist mit einem erheblich höheren Konsum
an psychoaktiven Substanzen aufgewachsen, als die Menschen, die heute in einem höheren
Lebensalter sind. Dadurch ist eine Steigerung des Anteils Suchtkranker an dieser
Bevölkerungsgruppe zu erwarten. Auch illegale Drogen werden im Alter zu einem Problem werden,
wenn z.B. Opiatabhängige durch jahrzehntelange Methadonsubstitution ein höheres Lebensalter
erreichen.
3. Es gibt drei
Gruppen von älteren Alkoholikern. Die Klassifikation folgt dem Erkrankungsbeginn:
1. early-onset 2. late- onset 3. rezidiv
„Early-onset“ Alkoholiker haben frühzeitig begonnen, zu
trinken und trotz der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ein höheres Alter
erreicht. Da dies relativ selten gelingt, ist die erste Gruppe zahlenmäßig die kleinste.
„Late-onset“ Alkoholiker haben ihr Leben sozial integriert
verbracht, haben die Aufgaben, die damit verbunden sind, gemeistert. Sie beginnen erst in
höherem Alter zu trinken, meist nach einem eingreifenden Lebensereignis, z.B. dem Verlust des
Partners. Die late-onset Alkoholiker bilden im Alter die größte Gruppe.
Rezidiv-Alkoholiker sind Menschen, die bereits an einer
Alkoholabhängigkeit erkrankt waren, erfolgreich abstinent wurden und im höheren Alter
wieder rückfällig werden. Zahlenmäßig ist auch dies eine sehr kleine Gruppe.
4. Ältere Menschen
haben eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Alkohol.
Durch Stoffwechselveränderungen im Alter und durch häufig
vorhandene Begleiterkrankungen hat Alkohol für ältere Menschen eine
deutlich stärkere Wirkung. Man braucht weniger, um betrunken zu sein. Körperliche
Folgeschäden von Alkoholmissbrauch entstehen wesentlich schneller.
Auch sozial sind ältere Menschen wesentlich empfindlicher
gegen Alkohol. Die Zahl der Sozialkontakte geht mit zunehmendem Lebensalter häufig
zurück. Eine Suchterkrankung führt zu einem vollständigem sozialen Rückzug, was wiederum
die Suchterkrankung verstärkt und die Chance, den Alkoholkonsum aufzugeben, reduziert.
5. Sucht im Alter
kann erfolgreich behandelt werden.
Suchtkranke Ältere kommen erst vereinzelt in
Behandlungseinrichtungen. Die Ergebnisse sind jedoch erstaunlich gut: „late-onset“ und ältere
rezidiv-Alkoholiker haben vermutlich eine bessere Erfolgschance als jüngere Alkoholiker.
Lieder werden die vorhandenen Hilfsmöglichkeiten noch viel
zu wenig in Anspruch genommen. Strategien zu entwickeln, um ältere Suchtkranke zu
erreichen, wird eine der wichtigen Aufgaben in den nächsten Jahren sein.
6. Wichtigstes
Hindernis dabei, ältere Suchtkranke zu erreichen, ist der noch weit verbreitete
therapeutische Nihilismus.
Praktisch alle älteren Suchtkranke stehen im Kontakt zum
medizinischen oder sozialen Hilfesystem. Deshalb sollte es nicht allzu schwierig sein,
diesen Personenkreis zumindest über die Hilfsmöglichkeiten zu informieren. Leider besteht
auch bei Ärzten und Pflegekräften häufig die Auffassung, dass es sich nicht lohnt, ältere
Suchtkranke zu behandeln, oder dass man diesen Menschen wegen ihrer begrenzten Lebenserwartung
die Anstrengung einer Therapie ersparen sollte. Unterschwellig spielen dabei auch
Nützlichkeitserwägungen eine Rolle.
Deshalb muss zu allererst das medizinische Hilfesystem von der
Wirksamkeit und von der Bedeutung einer Suchtbehandlung für die Lebensqualität der
Betroffenen überzeugt werden.
7. Für die
Betroffenen ist die Scham das Haupthindernis bei der Gesundung, der Wunsch nach Würde
und Lebensqualität ist der Hauptantrieb für Veränderung.
Suchtkranke Ältere, insbesondere die größte Gruppe der
late-onset Alkoholiker, leiden unter starken Schuldgefühlen wegen ihrer Sucht. Dies macht es
ihnen schwer, Hilfe zu suchen bzw. anzunehmen. Wichtigster Motor der Veränderung ist für die Betroffenen
der Wunsch, die eigene Würde wieder zu gewinnen. Sich selbst respektieren zu können, hat
für ältere Menschen eine besondere Bedeutung. Das Erlebnis, wieder eine gute
Lebensqualität erreicht zu haben, sichert die Abstinenz.
Übersichtsartikel: Beutel, M., Baumann, M.: Rehabilitation suchtkranker älterer
Patienten, Suchttherapie 2000; 1; 155-162 Dr. med. Martin Beutel Kraichtal-Kliniken, Therapiezentrum Münzesheim, Am Mühlberg,
76703 Kraichtal Fax 07270/60-591, Tel. 07250/60-511, e-mail: martin.beutel@kraichtal-kliniken.de
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