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Ich
lag im Wald auf dem Moos ausgestreckt und hatte nur noch einen
einzigen Gedanken, nämlich, daß ich meinem traurigen Dasein
mit Selbstmord ein Ende machen müsse. Zu lange glaubte ich
gezögert zu haben, meinen Entschluß in die Tat umzusetzen. So
oft hatte ich mir doch eingeredet: Wenn ich nicht mehr weitertreiben
kann, töte ich mich. Nun denn, der Augenblick war gekommen!
Mühsam richtete ich mich auf und lehnte mich an den Baum, der
mir in jenem Waldwinkel schon so oft notdürftige Herberge gewesen
war. Eine unsaubere alte Zeitung diente mir, elend genug als
Lager. Gar zu schrecklich hatte mir die vergangene Woche zugesetzt
mit Hunger und Kälte. Nun zitterte ich obendrein vor Angst,
als ich langsam den Wald verließ. Fünfzig Meter von mir entfernt
stürzte sich tosend das Wasser des Kanals von der Schleusenkante
in die Tiefe. Mondlicht erhellte die Gegend. Aus der Ferne erklangen
zwei Glockenschläge. Mir war zumute wie einem Gefangenen,
der nach jahrelanger Haft den Kerker verläßt. Ich stand
da, ohne Kopfbedeckung, mit langen schmutzigen Haaren, in Hosen,
die mit Stecknadeln zusammengeflickt und mit einer Schnur zusammengehalten
waren. In meiner Tasche befand sich ein einziges Zweifrankenstück,
eingewickelt in einen stark abgenutzten Fetzen Tuch. Ich besaß
weder Jacke noch Mantel; es war Ende Oktober. Von meine Freunden
verlassen, von meiner Familie ausgeschlossen, verachtet von
meinen Bekannten, entschloß ich mich zu verschwinden, um meiner
Ausweglosigkeit, der Schande und allen Leiden ein Ende zu machen. So
starrte ich in das fließende Wasser. Also los, ein bißchen
Mut! Von neuem ergriff mich Furcht. Plötzlich wurde mir die
Eingebung geschenkt zu beten. Es waren nur einige Worte
gleichsam ein Hilferuf, aber so innig, daß ich zu schluchzen
begann. In allen Menschlichen Wesen, seien sie auch die schlimmsten
Alkoholiker, lebt ein Funken guten Willens, ein wenig Herz,
also eine kleine Hoffnung. Ich fing an nachzudenken, und
diese wenigen Minuten hielten mich zurück vom Sprung in die
Tiefe. Mit geschlossenen Augen durchdachte ich alles, was sich
um mich ereignet hatte. Dies habe ich gefunden in einer
wahren Lebensgeschichte von "Jean Saint Dizier".
Es
hat mich auch sehr aufgewühlt. Bei solchen Erlebnissen werde
ich immer an meine Vergangenheit erinnert. Ich muß euch sagen,
es tut immer noch weh. Viele Erlebnisse sind in mir aufgestiegen.
Ich glaube auch ihr kennt solche schrecklichen Tiefen, wo ihr
nicht mehr Leben wolltet. Wie war es denn in der Sucht. Der
Anfang mit dem Erleichterungstrinken, wo wir uns ja alle schon
selbst betrogen haben, war in meiner Erinnerung angenehm. Der
Selbstbetrug mit Alkohol geht alles, die Probleme sind besser
zu bewältigen, ich kann meine Gefühle zeigen war eigentlich
schön. Aber was kam danach. Wo ich bei jeder sich bietenden
Gelegenheit getrunken habe, wo ich trinken mußte und nicht wußte,
was mit mir geschehen war. Es war die Hölle. Mein ganzer
Tagesablauf war mit Angst ausgefüllt. Angst, daß irgend jemand
kommt und merkt, daß ich getrunken habe. Angst einkaufen zu
gehen. Angst vor meinem Partner und Schuldgefühle. Schuldgefühle
weil ich wieder getrunken hatte, wo ich doch versprochen hatte,
nicht mehr zu trinken. Angst vor den Vorwürfen, vor den Auseinandersetzungen.
Angst eigentlich vor der ganzen Familie. Ich war einfach ein
Versager. Meine Schuldgefühle drückten mich auf den Boden. Ich
wußte, ich würde alles zerstören, aber war nicht in der Lage
aufzuhören. Ich zitterte innerlich schon tagsüber, wenn
ich an die Verachtung in den Augen meines Mannes dachte. Für
ihn war ich einfach eine haltlose Säuferin. Es bildete'sich
in der Familie eine Front gegen mich. Ich hatte schreckliche
Angst vor der Einsamkeit. Mein Minderwertigkeitsgefühl steigerte
sich ins Unermeßliche und trotzdem mußte ich weiter trinken.
Aber warum habe in dieser Situation, wo ich von Angstgefühlen
und Schuldgefühlen gebeutelt wurde nichts unternommen? Heute
weiß ich warum. Ich wollte einfach keine Alkoholikerin sein.
Nein, das konnte ich nicht zugeben. Lieber wollte ich meinem
Leben ein Ende setzen. Was ich auch mit 3 Selbstmordversuchen
probiert habe. Es ist mir nicht gelungen. Heute kann ich nur
sagen, Gott sei Dank. Jetzt habe ich die ganze Zeit als Abhängige
zu Abhängigen gesprochen. Wie sieht es aber aus bei Angehörigen.
Auch diese haben das Leid erlebt, auch sie lebten jahrelang
in Angst. Angst vor jedem Tag. Nie konnten sie wissen,
wie sie ihren Partner antreffen. Angst, daß er seine Arbeitsstelle
verliert. Angst vor dem sozialen Abstieg. Nach jeder kurzen
Tinkpause des Partners die Enttäuschung, aber auch Schuldgefühle
vielleicht selbst versagt zu haben. Und immer wieder Hoffnung.
Auch sie hatten viele Jahre ihres Lebens mit Hoffnung, Schuldgefühlen
und Ängsten zu kämpfen. Ich möchte heute allen Angehörigen danken,
daß sie diese Zeit, die sehr schwer für sie war, mit ihrem Partner
durchgestanden haben.
Edeltraud
Dömming
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